Demokratie braucht Bildung

By Barbara Prammer

Published on June 20, 2014

Es gibt keine Demokratie ohne überzeugte DemokratInnen! Um zu solchen werden zu können, müssen Grunderfordernisse der Demokratie wie Gewaltlosigkeit, Empathie, Toleranz und Solidarität in der eigenen Lebenswelt erlernt und verinnerlicht werden.

Politik, wie ich sie verstehe, muss vieles leisten, voran stehen für mich jedoch zwei Aufgaben: allen Menschen faire Chancen zu bieten und ihnen Zukunft zu eröffnen. Soziales und Bildung müssen im Mittelpunkt allen politischen Handelns stehen.

Zentrales politisches Ziel ist und bleibt für mich eine gerechtere Gesellschaft; eine faire Gesellschaft, die allen Chancen eröffnet; eine soziale Gesellschaft, die auf Schwächere schaut, in der nicht Egoismus und Rücksichtslosigkeit dominieren; eine verlässliche Gesellschaft, in der gleiches Recht für alle gilt und durchgesetzt wird. Eine solche Gesellschaft kann nicht mit einigen wenigen Maßnahmen erreicht werden, vielmehr muss die gesamte Politik danach ausgerichtet sein.

Ein Schlüssel zu mehr Chancen und Möglichkeiten ist Bildung. Sie bietet keine Garantie für ein besseres, glücklicheres Leben, aber sie öffnet Türen. Aufgabe der Politik ist es, diese Türen zu öffnen. Was das bedeutet, habe ich selbst erlebt: Im letzten Schuljahr, in der Maturaklasse, habe ich zum ersten Mal neue Schulbücher bekommen. Bis dahin musste ich mit alten, übertragenen Büchern auskommen. Ich bezeichne mich deshalb als »Kind Kreiskys«, weil ich zu jener Generation gehöre, die von der Bildungsoffensive Anfang der 1970er Jahre enorm profitiert hat. Damals wurden bestehende Barrieren abgebaut und allen gleicher Zugang zu Bildung ermöglicht, im Wissen, dass nur so eine gerechtere Gesellschaft herzustellen ist. Noch immer aber beeinflusst die soziale Hierarchie Bildungs- und somit Lebenschancen. Daher hat das Bildungssystem dafür zu sorgen, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten die gleichen Bildungschancen vorfinden wie Kinder aus sogenannten »geordneten« Verhältnissen.

In weiterer Folge sollen sie ein Bildungssystem vorfinden, in dem das Hinterfragen und das Infragestellen als Werte gefördert werden, denn das Erlernen und Üben demokratischen Verhaltens fängt bei den Kindern an. Schon sie sollen von Anfang an die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte als Werte erkennen, die auch ihnen selbst Chancen und Perspektiven eröffnen. Diese Werte nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu praktizieren, muss gelernt werden; so wie die Demokratie die einzig politisch verfasste Gesellschaftsordnung ist, die gelernt werden muss, um gelebt werden zu können. Es gibt keine Demokratie ohne überzeugte DemokratInnen und um zu solchen werden zu können, müssen Grunderfordernisse der Demokratie wie Gewaltlosigkeit, Empathie, Toleranz und Solidarität in der eigenen Lebenswelt erlernt und verinnerlicht werden.

Mit der von mir 2007 ins Leben gerufenen »Demokratiewerkstatt« und ihren sechs verschiedenen Workshops leistet das Parlament mit bereits über 50.000 (stand 2013) teilnehmenden Kindern aus ganz Österreich einen wertvollen und mittlerweile auch schon international viel beachteten Beitrag dazu, unsere BürgerInnen der Zukunft in ihrer Entwicklung zu bewussten und aktiven DemokratInnen zu unterstützen. Der Erwerb von Bildung ist freilich niemals abgeschlossen und so mit keine Frage des Alters. Genauso sind das Einüben von demokratischen Verhaltensweisen und die Gestaltung von politischen Verhältnissen Prozesse, die ein Leben lang andauern müssen. Von dieser demokratischen Handlungs- und Partizipationsfähigkeit der Bevölkerung hängt der Fortbestand unserer Demokratie entscheidend ab. Dabei muss allen auch klar sein, dass Demokratie kein beliebiges System ist, an das einfach Ansprüche gestellt werden können und von dem man sich ohne eigenes Zutun Befriedigung von Bedürfnissen erwarten kann; vielmehr ist Demokratie ein System, das auch Ansprüche an das Individuum stellt.

Ich möchte daher einmal mehr betonen, welch bedeutende Rolle im Prozess der Gestaltung demokratischer politischer Verhältnisse der Erwachsenenbildung zukommt; der Art von Erwachsenenbildung, die Bildung nicht ausschließlich als ökonomisch verwertbares Gut sieht, sondern sich ihrer politisch-demokratischen und gesellschaftlichen Funktion bewusst ist.

Wenn Demokratie also gelernt werden muss, um gelebt werden zu können, gilt für mich auch der Umkehrschluss, dass Demokratie gelebt werden muss, um gelernt werden zu können. Demokratie lernen heißt für mich nicht, sich einmalig einen Regelbestand anzulegen und sich darauf zu verlassen, dass dieser dann ewig gültig bleibt; es heißt vielmehr, sich jeden Tag aufs Neue anzustrengen und solidarische Mitbestimmung zu üben. Wir dürfen in allen Diskussionen zum Thema Politikverdrossenheit folgendes nie aus dem Blickfeld verlieren: dass es eine Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist, dass alle Menschen ihre Interessen nicht nur erkennen, sondern auch einbringen können; dass sie Alternativen finden und diese auch bewerten können; und dass sie Kompromisse als Ausdruck einer pluralen Gesellschaft verstehen und bejahen können.

In einer immer komplexer werdenden Welt und in unserer dynamischen Zeit gilt dies mehr denn je. Demokratie muss verinnerlicht und in allen Bereichen menschlichen Lebens gelebt werden – Voraussetzung dafür ist, dass Bildung in der Gesamtheit all ihrer Themen und Bereiche verstärkt als politisches und demokratisches Projekt gesehen wird.

Die Autorin

Barbara Prammer is the President of the National Council of Austria. This article is translated from German.

Article picture: Pixabay

Articles

Law & Philosophy